Das, was man in der deutschen Politik »Staatsräson« nennt, gilt in gleicher und noch anderer Weise auch für die ganze Christenheit: Eine tiefe Verbundenheit und Liebe zu Israel. Das jüdische Volk ist unsere Familie, sie sind wie unsere Cousinen und Cousins, sind unsere Onkel und Tanten. Die schönen Blüten unseres Glaubens wachsen aus demselben Wurzelwerk.
Keine der Religionen ist unschuldig geblieben, weil sich in allen auch Raum für Fundamentalismus fand, der sehr häufig eine unheilige Bruderschaft mit politischem Extremismus einging. Furchtbare Dinge werden dann möglich und geschehen und gehören auch zu unserer Geschichte.
Am neunte Tag des Monats Aw im jüdischen Kalender, einem Datum in den Sommerwochen, gedenkt das Judentum der wiederholten Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem. In geschwisterlichem Mitgefühl nennen wir in zeitlicher Nähe den 10. Sonntag nach Trinitatis »Israelsonntag«. Die Alttestamentliche Lesung für diesen Sonntag steht in den Klageliedern Jeremias. Sie sind nach der ersten Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Deportation im Jahr 597 vor Christi Geburt entstanden.
Gedenke, Herr, wie es uns geht; schau und sieh an unsre Schmach! Unser Erbe ist den Fremden zuteilgeworden und unsre Häuser den Ausländern. Wir sind Waisen und haben keinen Vater; unsre Mütter sind wie Witwen. Unser Wasser müssen wir um Geld trinken; unser eigenes Holz müssen wir bezahlen. Die Verfolger sitzen uns im Nacken, und wenn wir auch müde sind, lässt man uns doch keine Ruhe. Wir mussten Ägypten und Assur die Hand hinhalten, um uns an Brot zu sättigen. Unsre Väter haben gesündigt und leben nicht mehr, wir aber müssen ihre Schuld tragen.
Knechte herrschen über uns und niemand ist da, der uns von ihrer Hand errettet. Wir müssen unser Brot unter Gefahr für unser Leben holen, bedroht von dem Schwert in der Wüste. Unsre Haut ist verbrannt wie in einem Ofen von dem schrecklichen Hunger. Sie haben die Frauen in Zion geschändet und die Jungfrauen in den Städten Judas. Fürsten wurden von ihnen gehenkt, und die Alten hat man nicht geehrt. Jünglinge mussten Mühlsteine tragen und Knaben beim Holztragen straucheln. Es sitzen die Ältesten nicht mehr im Tor und die Jünglinge nicht mehr beim Saitenspiel. Unsres Herzens Freude hat ein Ende, unser Reigen ist in Wehklagen verkehrt. Die Krone ist von unserm Haupt gefallen. O weh, dass wir so gesündigt haben! Darum ist auch unser Herz krank, und unsre Augen sind trübe geworden um des Berges Zion willen, weil er so wüst liegt, dass die Füchse darüber laufen.
Aber du, Herr, der du ewiglich bleibst und dein Thron von Geschlecht zu Geschlecht, warum willst du uns so ganz vergessen und uns lebenslang so ganz verlassen? Bringe uns, Herr, zu dir zurück, dass wir wieder heimkommen; erneure unsre Tage wie vor alters! Auch wenn du uns ganz verworfen hast und über uns so sehr erzürnt warst.
Knechte herrschen über uns und niemand ist da, der uns von ihrer Hand errettet. Wir müssen unser Brot unter Gefahr für unser Leben holen, bedroht von dem Schwert in der Wüste. Unsre Haut ist verbrannt wie in einem Ofen von dem schrecklichen Hunger. Sie haben die Frauen in Zion geschändet und die Jungfrauen in den Städten Judas. Fürsten wurden von ihnen gehenkt, und die Alten hat man nicht geehrt. Jünglinge mussten Mühlsteine tragen und Knaben beim Holztragen straucheln. Es sitzen die Ältesten nicht mehr im Tor und die Jünglinge nicht mehr beim Saitenspiel. Unsres Herzens Freude hat ein Ende, unser Reigen ist in Wehklagen verkehrt. Die Krone ist von unserm Haupt gefallen. O weh, dass wir so gesündigt haben! Darum ist auch unser Herz krank, und unsre Augen sind trübe geworden um des Berges Zion willen, weil er so wüst liegt, dass die Füchse darüber laufen.
Aber du, Herr, der du ewiglich bleibst und dein Thron von Geschlecht zu Geschlecht, warum willst du uns so ganz vergessen und uns lebenslang so ganz verlassen? Bringe uns, Herr, zu dir zurück, dass wir wieder heimkommen; erneure unsre Tage wie vor alters! Auch wenn du uns ganz verworfen hast und über uns so sehr erzürnt warst.
Klagelieder 5, 1-22
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Mehr als zweieinhalb Jahrtausende ist dieses Klagelied alt. Aber es könnte ein Evergreen sein oder ein Everblack. Ja, einzelne Ortsnamen muss man austauschen, aber nicht alle und sehr weit muss man nicht reisen. Alles ist dicht bei. Alles ist verbunden und verwoben oder verheddert wie ein Wurzelgeflecht: das gleiche Schicksal, die gleiche Schuld, die gleiche Verzweiflung, die gleiche Hoffnungslosigkeit, der gleiche Gott, die gleiche Sehnsucht, die gleiche Familie, Schwestern und Brüder, Cousins und Cousinen.
Wenn doch aus so viel Gemeinsamkeit Gutes wachsen würde.
Der Frieden kann nur allen gehören. Sonst bleibt er nicht.
Morgen ist der Israelsonntag, ein Tag mit einem alten Klagelied, mehr kann ich dazu nicht sagen.